& RADIESCHEN-INTERVIEW
diesmal mit: CORNELIA KOEPSELL
Im Nachkriegsdeutschland waren die Frauen eindeutig in der Mehrheit. Nichtsdestotrotz ließen sie sich von der Minderheit der zumeist versehrten Männer beherrschen
Zitat aus:
Cornelia Koepsell
Die Unbezähmbaren
Geest, 2023
zur Rezension
Foto links: © Dirk Schiff
Liebe Cornelia,
Du veröffentlichst in Literaturzeitschriften und Anthologien, du stehst auf Poetry Slam Bühnen, und voriges Jahr erschien dein dritter Roman.
Seit wann schreibst du? Und kannst du dich noch an deinen ersten Text erinnern?
Schon immer habe ich immer mal wieder Tagebuch geführt oder kleine Texte verfasst. So um das Jahr 2000 herum begann ich ernsthaft zu schreiben. Sehr früh hatte ich den Wunsch, Schriftstellerin zu werden. Lange Zeit traute ich mich nicht und nahm meinen eigenen Wunsch nicht ernst.
Mein erster Text handelte von einer weiblichen Auszubildenden, die ihren Lehrherrn erdolchte.
Hast du so etwas wie ein „tägliches Schreibritual“?
Ich schreibe morgens. Alles, was mir einfällt. Ohne System. Automatisches Schreiben. Es ist eine Art Meditation. Manchmal entsteht etwas, was ich in meinen Geschichten weiter verwende.
In Texten legst du die patriarchalen Strukturen in unserer Gesellschaft offen. Du schreibst viel über die Nachkriegsgeneration, aber nicht nur, denn noch immer sind Frauen den Männern in vielen Belangen nicht gleichgestellt. War dieses Thema immer schon zentral in deinem literarischen Schaffen?
Ja, dieses Thema beschäftigt mich sehr aufgrund eigener Erfahrungen. Ich bin furchtbar wütend darüber, dass die Hälfte der Menschheit, die Frauen, immer noch so unterdrückt und geschunden werden.
Die Figur der Frieda in deinem neuen Roman „Die Unbezähmbaren“ nimmt sich Freiheiten heraus, die für Frauen der Nachkriegszeit alles andere als selbstverständlich waren. Du selbst bist 1955 geboren. Gab es in deiner Jugend auch eine Tante Frieda, die dich bestärkt hat, deinen eigenen Weg zu gehen?
Es gab auch in der Nachkriegszeit Frauen wie Tante Frieda. Aber in meinem Umfeld leider nicht. Ich hätte mir sehr so eine Tante gewünscht, die auf meiner Seite steht. Deshalb habe ich sie mir herbei geschrieben.
Gerade die Lockdowns haben aufgezeigt, dass der Großteil der Haus- und Care-Arbeit noch immer von Frauen übernommen wird – als sei es ganz selbstverständlich, dass sich der Mann hinter den Laptop zurückziehen darf, die Frau jedoch nicht. Wie empfindest du die Rolle der Frau heute?
Vieles, was ich im Roman beschrieben habe, ist immer noch brandaktuell. Gerade die Rechten wollen uns unsere hart erkämpften Rechte wieder nehmen. Mitten in Europa. Weltweit ist es noch viel schlimmer. In Afghanistan werden die Frauen im Haus eingesperrt. In asiatischen Ländern werden massenhaft weibliche Föten abgetrieben. Millionen werden genital verstümmelt.
Besonders schockierend finde ich persönlich es, wenn zur MeToo-Debatte gerade von Frauen geäußert wird: „Ach, die übertreiben doch, die wollen sich nur wichtig machen“ oder gar: „Die sind doch selbst schuld.“ Warum, glaubst du, solidarisieren sich nach wie vor noch immer so viele Frauen mit den männlichen Tätern statt mit ihren Opfern?
Frauen solidarisieren sich mit den Tätern, weil sie Angst haben, selbst in die Schusslinie zu geraten. Sie biedern sich an. Dieses Phänomen gibt es auch in allen Diktaturen. Sklaven, die es sich einigermaßen gemütlich in der ihnen zugewiesenen Hütte eingerichtet haben, verpfeifen diejenigen, die sich zur Wehr setzen.
Friedas Texte werden erst veröffentlicht, als sie sich ein männliches Pseudonym zulegt. Zu ihrer Nichte sagt sie: »Die Herrschaften aus dem Literaturbetrieb und auch sonst wo können sich einfach nicht vorstellen, dass ein Mensch gut schreiben kann, obwohl seine Geschlechtsteile nicht nach außen hängen.« Hast du das Gefühl, dass es Autorinnen im Literaturbetrieb auch heute noch schwerer haben als ihre männlichen Kollegen?
Die Mehrheit der Literaturkritiker und derjenigen, die im Betrieb etwas zu sagen haben, ist immer noch männlich.
Ein wenig hat sich sicher geändert. In meiner Schulzeit in den siebziger Jahren haben wir nur eine einzige Schriftstellerin gelesen: Annette Droste-Hülshoff.
Welchen Ratschlag würdest du einer vierzehnjährigen Julia heute geben?
Mein Ratschlag an Julia: Nimm dir alle Freiheiten, die du kriegen kannst. Lass dir nicht von der Liebesschnulzen- und Schönheitsindustrie das Hirn vernebeln. Achte auf deine finanzielle Unabhängigkeit. Folge deinen Interessen und Leidenschaften. Sei stolz.
Vielen Dank für deine Antworten!
Das Interview führte Margarita Puntigam-Kinstner