In Wahrheit enden die Geschichten nie, denn die Figuren, die ich erschaffe, leben ja in mir weiter und hören dementsprechend nicht auf zu handeln.
Jonas Thüringer wurde 1997 in Wien geboren und lebt in Gänserndorf /Niederösterreich. Sein Gedicht “Stille” erscheint in unserer nächsten Ausgabe mit dem Titel “Schall & Rauch”.
Für unseren Blog hat der Autor 10 Fragen beantwortet – wir danken herzlich!
Foto: Jonas Thüringer
© Marc Hofbauer
Welche Textgattung bevorzugst du?
Eigentlich Epik, also Romane und Kurzgeschichten. Aber ich muss gestehen, durch die aktuelle Phase meines Lebens, die mittlerweile mehrere Monate andauert, habe ich eine neue Sichtweise auf Gedichte entwickelt, wodurch die Lyrik einen stetig größer werdenden Stellenwert in meinem Leben einnimmt. Gedichte sind nämlich für mich zu einem Konservierungsmittel für intensive, negative Gefühle geworden. Gefühle, die so belastend sind, dass ich mich von ihnen befreien möchte, ohne sie zeitgleich vergessen oder verdrängen zu wollen. Mittels Lyrik vermag ich genau das: Ich kann diese belastenden Empfindungen in ein Gedicht einspeisen, aber, und das ist eben das Besondere, ich kann sie jederzeit wieder in mir aufleben lassen, wenn ich die Verse lese. Solch ein Verarbeitungsprozess ist für mich bei Prosa nicht gegeben, wodurch ich aktuell tatsächlich nur Gedichte verfasse, was ich mir früher nie hätte vorstellen können.
Was hat dich zum Schreiben bewegt?
Die Faszination von Geschichten und das ewige Weiterspinnen dieser, selbst wenn man den Text oder das Buch offiziell beendet hat. In Wahrheit enden die Geschichten nie, denn die Figuren, die ich erschaffe, leben ja in mir weiter und hören dementsprechend nicht auf zu handeln.
Gibt es Themen, die dich als Autor besonders interessieren?
Zugang zur Literatur fand ich durch Fantasy und historische Romane. Mittelalterlicher Flair, vor allem in Verbindung mit fantastischen Elementen, wird daher immer etwas sein, das mich faszinieren wird. Doch man altert, das Schreiben und man selbst entwickeln sich weiter, wodurch man sich auch für andere Themen zu interessieren beginnt. Bedingt durch den intensiven Kontakt mit der Gegenwartsliteratur während meines Studiums hat es mir insbesondere die Erinnerungsliteratur angetan. Darum findet eine lebendige Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auch immer mehr Eingang in mein literarisches Schaffen.
Gibt es etwas, das dich beim Schreiben besonders inspiriert? Woher kommen deine Ideen?
Die Reize, die ich durch Bücher, Filme, Videos, Gespräche und natürlich durch Alltagsbeobachtungen aufnehme, gären im Unterbewusstsein vor sich hin, ehe sie schließlich in Form von Ideen gänzlich willkürlich bei kognitiv anspruchslosen Beschäftigungen wie Haushalts- oder Gartenarbeit, beim Duschen oder Zubettgehen aufpoppen.
Im Zentrum dieser Ideen stehen zumeist Schicksalsschläge. Das ist bestimmt ein Aspekt, der mein Schreiben dominiert, gerade weil mich hierbei zwar stets dieselben, aber ungemein spannenden Fragen umtreiben: Wie geht diese oder jene Figur mit dem Schicksalsschlag um? Welche Handlungsmöglichkeiten stehen ihr offen, wofür entscheidet sie sich letztendlich und in welche Richtung entwickelt sie sich durch das Setzen dieser konkreten Handlung? All diese Fragen beim Schreiben auszuleuchten und dabei zeitgleich den Anspruch von Literatur zu erfüllen, der sich darin begründet, dem / der Lesenden Lösungsansätze für sein / ihr Leben anzubieten, empfinde ich als extrem inspirierend. Insbesondere dann, wenn die Figuren das berühmtberüchtigte Eigenleben entwickeln und selbst mich plötzlich überraschen.
Wo schreibst du am liebsten?
In meinem Arbeitszimmer.
Zu welcher Tageszeit schreibst du am liebsten?
Von 7:00 – 9:00 Uhr und von 22:00 – 01:00 Uhr.
Was tust du, um eine Schreibblockade zu lösen?
Zwei Dinge: Erstens, einfach weiterschreiben. Schlimmer als ein leeres Blatt Papier kann es nicht werden. Selbst miserable Texte lassen sich mittels mehrfacher Überarbeitungsschritte repräsentabel gestalten; zumindest meistens. Im schlimmsten Fall verschwindet der Text einfach in der ominösen (digitalen) Schublade.
Oder zweitens, ich wechsle in den Planungsmodus und analysiere den Handlungsverlauf, meine Figuren, ihre Backstory und Orchestrierung. Wenn sich hier etwas auftut und man behebt es, dann lässt es sich meiner Erfahrung nach wieder ziemlich flüssig weiterschreiben. Aber diesen Schritt des Moduswechsels muss man mit größter Behutsamkeit gehen, ansonsten zerstört man mehr, als man rettet.
Was liest du gerade?
Kürzlich begonnen mit „Der Archipel Gulag“ von Alexander Solschenizyn.
Welches Buch sollte deiner Meinung nach jede:r lesen?
Obwohl erst einige wenige Seiten gelesen, kann ich schon jetzt sagen, dass „Der Archipel Gulag“ ein absolutes Muss für jeden ist!
Was schätzt du besonders am & Radieschen?
Dass es eine renommierte Literaturzeitschrift ist, die ihre Pforten auch jungen oder unbekannten Autor:innen öffnet. Das ist eine Zusammensetzung, die selten ist.
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mehr über den Autor:
Jonas Thüringer wurde 1997 in Wien geboren, lebt in Niederösterreich, Gänserndorf. Er studiert Deutsch und Physik auf Lehramt an der Universität Wien und unterrichtet seit 2021 im Konrad-Lorenz-Gymnasium. Er ist Mitglied beim Literaturverein Trapez. „Bester Text“ beim „Schreib-Was“-Schreibwettbewerb 2021 sowie diverse Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien. Seine jüngsten Kurzgeschichten streben nach einer lebendigen Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus.
Auszeichnungen:
− „Bester Text“ beim „Schreib-Was“-Schreibwettbewerb 2021. Text: 24 Stunden
− Nachwuchswissenschaftler 2021 im Elfriede-Jelinek-Forschungszentrum. Bachelorarbeit: „Such dort, wo der Mais am höchsten wächst.“: Vom Genozid zum Mnemozid durch Verscharren. Elfriede Jelineks Rechnitz (Der Würgeengel): Ein Dramenwerk gegen das Vergessen.
Veröffentlichungen (Auswahl):
− Der Rucksack. In: Rieger, Matthias (Hrsg.): Die zerrissene Zeit. Geschichten zur Spaltung der Gesellschaft. Traum3 2020. S. 127–130. ISBN: 978–3‑347–10785‑4
– Mitherausgeber der Vereinspublikation N°3 des Literaturvereins Trapez. 2021. ISBN: 978–3‑200–07369‑2
− Glaube ist … In: Liegener Christoph-Maria (Hrsg.): 7., Bubenreuther Literaturwettbewerb. tredition 2021. ISBN: 978–3‑347–42750‑1
− 24 Stunden. In: Schreib Was. Das Magazin (Sonderausgabe, August 2021). S. 6–7. ISBN: 978–3‑95840–309‑3
− Eine Ode an das Land. In: Literaturzeitschrift Veilchen. 71. Ausgabe (Oktober 2020). S. 15–16.
− Auf eigenen Beinen stehen können. In: experimenta Magazin für Literatur und Kunst 11 (November 2021). S. 59–60. ISBN: DE57 5519 0000 0295 4600 18
Jonas Thüringers Gedicht “Stille” findet man in & Radieschen #64 – Schall & Rauch
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