[EMPEHLUNG:] “WEISSNET 2023”

WEISSNET 2.3
Hg. von Ger­lin­de Hacker und Doro­thea Point­ner
edi­ti­on #igfem, 2024
240 S. | ISBN: 978395054916
>Antho­lo­gie kau­fen
Rezen­si­on: Mar­ga­ri­ta Pun­ti­gam-Kinst­ner

Was bedeu­tet es, Frau zu sein? Wie­so wer­den so vie­le The­men, die Frau­en betref­fen, noch immer tabui­siert? Und war­um spricht man von “Frau­en­li­te­ra­tur”, wenn eine Frau einen Roman schreibt?

Beim Lesen der Tex­te in “Weiss­Net 2.3”, der Antho­lo­gie der IG Femi­nis­ti­sche Autorin­nen, habe ich zwei­er­lei fest­ge­stellt. Ers­tens: Ich habe beim Lesen hef­tig mit dem Kopf genickt und einen Kno­ten im Magen gespürt. Zwei­tens: Ich habe beim Lesen hef­tig den Kopf geschüt­telt und einen Kno­ten im Magen gespürt. 

Die Tex­te las­sen sich grob in zwei Kate­go­rien ein­tei­len. Es gibt Tex­te, die gegen Tabus anschrei­ben. Wie etwa jener von Katha­ri­na Levas­ho­va, die sich die Fra­ge stellt, war­um eigent­lich nie­mand dar­über spricht, wie es ist, wenn man mit­ten in einer sie­ben­stün­di­gen OP plötz­lich spürt, dass sich das Regel­blut einen Weg durch die Wat­te bahnt. Wer denkt an die Ärz­tin? An den Blut­sturz zwi­schen ihren Bei­nen und ihre Schmer­zen?

Tabus gibt es im Leben einer Frau noch immer genug. Über die Peri­ode spricht man nicht, über die eige­nen Emp­fin­dun­gen am bes­ten auch nicht (hat sie eben das PMS), dass der Mann zu Hau­se kaum mit­hilft, soll frau auch nicht belas­ten (muss sie auch immer so rum­kep­peln?) und dass Müt­ter an man­chen Tagen per­ma­nent heu­len oder schrei­en könn­ten, weil sie nicht mehr wis­sen, wohin mit sich selbst, inter­es­siert auch nie­man­den. Frau­en haben seit Ewig­kei­ten Kin­der bekom­men und den Haus­halt geschupft, wo, bit­te­schön, liegt das Pro­blem? Lasst uns doch in Ruhe mit euren Befind­lich­kei­ten!

Män­ner schrei­ben seit Jahr­zehn­ten offen über ihre Sexua­li­tät und ihre Pro­sta­ta­pro­ble­me – und nie­mand stößt sich dar­an. Auch wir Frau­en nicht. Kei­ne von uns wür­de abschät­zend das Wort “Män­ner­li­te­ra­tur” in den Mund neh­men. War­um? Weil wir uns mehr für das Mensch­li­che inter­es­sie­ren? Weil wir die empa­thi­sche­re  Hälf­te der Mensch­heit sind? Was für ein Schwach­sinn.

Und doch, vie­les, was als Kli­schee anmu­tet, exis­tiert noch immer. Hier kom­men wir nun zur zwei­ten Kate­go­rie. Hier geht es nicht mehr “nur” um “Befind­lich­kei­ten”, son­dern um die Gewalt, die vie­le Frau­en noch immer täg­lich erle­ben. Bei wie vie­len Paa­ren bestimmt nach wie vor der Mann, mit wem die Frau ihre Frei­zeit ver­brin­gen darf? Wie vie­le Frau­en gehen geduckt durchs Leben, weil sie see­li­sche und / oder kör­per­li­che Gewalt durch Män­ner erfah­ren – durch die Väter, den Boss, den Ehe­mann …
Und ja, wie vie­le Frau­en haben Angst, wenn sie im Dun­keln nach Hau­se gehen – und das nicht bloß, weil sie para­no­id sind.

Sind wir Frau­en selbst schuld? Weil wir rotes Kirschla­bel­lo auf­tra­gen oder den Mini­rock aus dem Kas­ten holen? Weil wir den fal­schen Part­ner gewählt haben? Weil wir uns im Jahr 2024 noch immer gefal­len las­sen, dass der Groß­teil der Haus­ar­beit an uns kle­ben bleibt? Haben wir unse­re Män­ner zu sehr ver­wöhnt, wenn sie kei­nen Wisch­mop in die Hand neh­men? Haben wir die Män­ner zu sehr gereizt, wenn sie zuschla­gen?

Man­che, auch Frau­en, wer­den jetzt den­ken: Nicht schon wie­der. Nicht schon wie­der Gewalt an Frau­en, nicht schon wie­der Peri­ode, nicht schon wie­der über­for­der­te Müt­ter. Ich gebe zu, manch­mal hängt auch mir das The­ma zum Hals her­aus. Und manch­mal den­ke ich: Errei­chen die­se Tex­te über­haupt die Men­schen, die sie errei­chen soll­ten? Kein gewalt­tä­ti­ger Mann wird die­se Antho­lo­gie zur Hand neh­men. Kein Mann, der ande­re abfäl­lig als »Weich­ei«, bezeich­net, wird sich mit sei­nem Sech­zeh­ner­blech aufs Sofa setz­ten und mal schnell ein paar “WeissNet”-Texte lesen.

Auch wenn das Wort “Frau­en­li­te­ra­tur” zum Kot­zen ist: Viel­leicht kann man die Sache auch im posi­ti­ven Licht sehen. Tex­te von Frau­en wir­ken – auf ande­re Frau­en. Jede von uns wird Denk­wei­sen an sich ent­de­cken, die von patri­ar­cha­len Mus­tern geprägt sind, ob wir es wol­len oder nicht. Wir müs­sen begin­nen, noch mehr aus den uns zuge­dach­ten Rol­len aus­zu­bre­chen. Kei­ne Recht­fer­ti­gun­gen mehr, kei­ne Scham, kein per­ma­nen­tes Ja-Sagen auf eige­ne Kos­ten. 

Als lesen­de Frau­en kön­nen wir mit jenen über die Tex­te dis­ku­tie­ren, die sie aus diver­sen Grün­den nicht lesen oder auch ein­fach nicht die Zeit dazu haben. Wir kön­nen in der Kin­der­er­zie­hung noch mehr umden­ken. Und wir kön­nen uns selbst Mut zuspre­chen – wenn es etwa dar­um geht, den Haus­halt links lie­gen zu las­sen, nicht per­fekt zu sein, auch als Mut­ter nicht. Oder dar­um, sich im Job selbst auf die Schul­ter zu klop­fen. Die Män­ner machen das ja auch. War­um soll­ten wir Frau­en nicht das­sel­be Recht haben? Und ja – wie­so nicht mal dar­über reden, war­um man als Ärz­tin eigent­lich wei­ße Hosen tra­gen muss, selbst wenn man menstru­iert?

Im Moment wer­den schon wie­der neue Tex­te gesam­melt. Für die nächs­te Aus­ga­be.
“Weiss­Net” – das ist eine Art jähr­li­che Bestands­auf­nah­me. Gleich­zei­tig wir­ken die Tex­te wie klei­ne Dra­gees, die uns zu mehr »Unge­hor­sam« auf­sta­cheln. Sei­en wir unbe­quem. Spre­chen wir, wo uns ande­re den Mund ver­bie­ten wol­len.
Oder schrei­ben wir dar­über. Ein­sen­de­schluss ist übri­gens der 1.10. Infor­ma­tio­nen zur Aus­schrei­bung fin­det frau hier.

P.S: Fans von &Radieschen wer­den in der Antho­lo­gie übri­gens vie­le ihnen gut bekann­te Autorin­nen wie­der­fin­den!

Mar­ga­ri­ta ist seit 2009 bei &Radieschen. Sie ist für den Satz der Zeit­schrift sowie den rei­bungs­lo­sen Ablauf von Ein­sen­de­schuss bis Druck ver­ant­wort­lich – und für die­sen Blog. Bei &Radieschen hat sie ihre Lei­den­schaft fürs Zeit­schrif­ten­ma­chen ent­deckt, wes­we­gen sie seit 2021 auch die Dia­lekt­zeit­schrift “Mor­gen­schte­an” gestal­tet. Wenn sie nicht gera­de vor dem Bild­schirm sitzt, dann liest sie meist. Oder sie schreibt (> margaritakinstner.at).

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