Zdenka Becker:
Es ist schon fast halb zwölf
Amalthea, 2022
ISBN: 978–3‑99050–220‑4
Seiten: 256, EUR 25,00
Rezension: Margarita Puntigam-Kinstner
Hilde kümmert sich liebevoll um ihren an Demenz erkrankten Mann Karl, mit dem sie 70 Ehejahre verbinden. Kurz vor ihrem Umzug ins Altersheim bittet sie Markus, den Zivildiener, ihr die Kiste mit den alten Briefen vom Dachboden zu bringen. Denn Hilde hütet ein Geheimnis, von dem selbst Karl nichts weiß – aber an dieses muss sie sich erst langsam herantasten …
Zdenka Becker ist passiert, was wohl der Traum vieler Schriftsteller*innen ist – sie fand tatsächlich mehr als 500 Briefe und fast genauso viele Postkarten auf dem Dachboden ihres Hauses. Aus diesem echten Briefverkehr webte sie die Geschichte rund um Hilde und Karl – jenem Ehepaar, das während der Kriegsjahre getrennt voneinander lebt, denn Karl arbeitet, da er zu Hause keine Arbeit fand, bei den Daimler-Werken in Ludwigsfelde, während Hilde – bis auf eine kurze gemeinsame Zeit in Berlin, in der auch ihre Tochter zur Welt kommt – in Fischbach bleibt.
Die Briefe und Postkarten lassen uns Lesende nachvollziehen, wie es den beiden jungen Menschen in den Jahren 1938–1945 geht. Man merkt schon früh, dass Hilde alles andere als begeistert von diesem Hitler und seinen Eroberungsfeldzügen ist, dennoch fügt sie sich, denn sie möchte eine brave Ehefrau für ihren Karl sein, der in den ersten Kriegsjahren noch überzeugter Anhänger des Nationalsozialismus ist.
Doch das Leben in Ludwigsfelde ist kein leichtes, Karl arbeitet viel, ist oft krank und vor allem viel zu dünn. Hilde wiederum muss mit der Schwester den heimatlichen Hof bewirtschaften, die Verantwortung für die Landwirtschaft, die geerbte Bäckerei und die Kinder wird den beiden bald zu viel. Als dann auch noch das Holz für den Winter ausgeht, nimmt das Schicksal seinen tragischen Lauf …
Je weiter die Zeit voranschreitet, desto mehr Unausgesprochenes schwingt in den Briefen der beiden Liebenden mit – vor allem, als Karl nach der Verlegung der Daimler-Werke den Zwangsarbeitern aus dem KZ Neckarelz begegnet. Zdenka Becker hebt diese Fäden behutsam auf und ergänzt nur sehr behutsam an einigen Stellen.
„Es ist schon fast halb zwölf“ ist eine unglaublich schöne, zarte und zugleich erschütternde Geschichte eines jungen Ehepaares, das voneinander getrennt leben muss, weil die Zeiten es nicht anders zulassen. Eine Geschichte zweier Menschen, die beide eine Schuld in sich tragen. Eine Schuld, die sie ihr ganzes Leben lang belastet und über die sie miteinander nie gesprochen haben – aus Angst, einander zuviel zuzumuten.
Am Ende stellt sich Hilde der eigenen Vergangenheit.„Hast du verstanden, was ich dir gerade erzählt habe?“, fragt sie Karl, worauf dieser antwortet: “Ja, immer.“
Margarita ist seit 2009 bei &Radieschen. Sie ist für den Satz der Zeitschrift sowie den reibungslosen Ablauf von Einsendeschuss bis Druck verantwortlich – und für diesen Blog. Bei &Radieschen hat sie ihre Leidenschaft fürs Zeitschriftenmachen entdeckt, weswegen sie seit 2021 auch die Dialektzeitschrift “Morgenschtean” gestaltet. Wenn sie nicht gerade vor dem Bildschirm sitzt, dann liest sie meist. Oder sie schreibt (> margaritakinstner.at).