Ilse Krüger:
Das Rotzmensch
Sisyphus, 2023
ISBN: 978–3‑903125–81‑0
320 Seiten, € 16,00
Rezension: Margarita Puntigam-Kinstner
In ihrem neuen, autobiografischen Roman “Das Rotzmensch”, der vor wenigen Wochen im Sisyphus Verlag erschienen ist, erzählt die 1939 in Zwettl geborene Schriftstellerin Ilse Krüger vom Aufwachsen nach dem Krieg.
Ilses Vater ist vom Krieg nicht mehr zurückgekehrt. Lange hofft das Mädchen, dass er eines Tages doch nach Hause kommen wird – bis die letzten Kriegsgefangenen zurückkommen hofft sie es, denn sie möchte der Mutter einfach nicht glauben, dass der Vater nicht mehr lebt.
Ilses Mutter muss ihre beiden Kinder allein durch die Nachkriegsjahre bringen. Als ehemaliges Mitglied der Nationalsozialistischen Partei hat die Juristin jedoch Berufsverbot. Die geplante Übersiedelung nach Berlin findet nicht statt, denn Ilses Oma lebt allein in Wien und Ilses Mutter fühlt sich verantwortlich, grade jetzt in dieser schwierigen Zeit, sie hat Sorge, die Oma könnte ohne sie verhungern. Also ziehen Ilse, ihr Bruder und die Mutter bei der Oma ein, einer gebildeten aber psychisch labilen Frau, die ihre Enkeltochter als Rotzmensch beschimpft und ständig an ihr rumnörgelt. Um Ilse vor den Verbalattacken der Großmutter zu schützen, bittet Ilses Mutter, die schließlich Arbeit in einer Wäscherei findet, immer wieder Freundinnen, auf ihre Tochter aufzupassen. In den Ferien wird Ilse auf Ferienlager verschickt oder zu einem Ehepaar nach Zwettl und auch die Kinderlandverschickungen nutzt die Mutter, um Ilse von der Großmutter fernzuhalten. In Zaandam sieht die neunjährige Ilse in einer Illustrierten das erste Mal Bilder von KZ Inhaftierten. Das Mädchen ist verwirrt. Was ist da geschehen? Doch niemand gibt ihr Antwort, sie wüsste auch gar nicht, wen sie danach fragen könnte. Erst als sie 1955 durch den von den Alliierten gedrehten Dokumentarfilm »Die Todesmühlen« das volle Ausmaß der Gräueltaten des Nationalsozialismus erfährt, stellt sie ihre Mutter zur Rede, die den Film jedoch als einseitige Darstellung abtut. Das Wissen um das Geschehen und das Schweigen der Mutter stürzen den Teenager in eine tiefe Sinnkrise.
Ilse Krügers autobiografischer Roman berührt. Vor allem aber ist “Das Rotzmensch” dramaturgisch geschickt gestrickt, denn der Roman ist mehr als nur eine Erinnerung an die Jugend. Die Kapiteln wechseln einander ab. Da spricht einerseits die Autorin von heute, die aus ihrem Alltag und von ihren Gedanken im Jahr 2022 erzählt – einem Jahr, in dem die Pandemie gerade einmal überstanden ist, einem Jahr, in dem mitten in Europa wieder ein Krieg eskaliert und die Energiekrise die Menschen verunsichert. Die Erinnerungen an früher sind nicht in der Ich-Perspektive verfasst, Ilse Krüger distanziert sich von ihrem Jugendlichen Ich, sie lässt die junge Ilse zur Romanprotagonistin werden. So stehen Gegenwart und Vergangenheit einander gegenüber und wir Lesende lernen nicht nur das Mädchen kennen, sondern auch und vor allem die Gedanken einer Autorin, die die 80 überschritten hat. Da ist die Frage nach der eigenen Zukunft: Wie lange werde ich noch selbständig leben und arbeiten können? Die Geschehnisse der Gegenwart stehen den schmerzvollen Erinnerungen an die eigene Kindheit gegenüber – an das permanente Weggeschicktwerden, die Armut und vor allem die Erinnerung an den früh verstorbenen Bruder.
llse Krüger klagt nicht an, sondern versucht zu verstehen. Sie arbeitet so nicht nur die eigenen Traumata auf, sondern bringt uns durch ihr Erinnern auch der Generation der Trümmerfrauen näher. Da geht es durchaus um das Selbstbestimmungsrecht der Frau – denn Ilses Mutter wählt den schwereren Weg für sich und ihre Kinder, sie bindet sich nicht mehr, um die eigene Freiheit nicht zu verlieren. Trotz der bitteren Armut lernt Ilse als Kind das Theater kennen, und auch nach Italien geht es zu, mit den Rädern bis ans Meer.
Krüger geht es in ihrem persönlichen Rückblick von Kriegsende bis zum Staatsvertrag aber auch um die Verantwortung als Österreicherin. Warum hat sich Österreich als das erste Opfer der Nazis bezeichnet? War es damals nicht vielleicht sogar eine politische Notwendigkeit, damit Österreich das Schicksal Deutschlands erspart blieb?
Wer ein kluges, persönliches Zeitzeugnis über das Leben in in der Nachkriegszeit lesen möchte, dem sei “Das Rotzmensch” von Ilse Krüger wärmstens ans Herz gelegt.
Margarita ist seit 2009 bei &Radieschen. Sie ist für den Satz der Zeitschrift sowie den reibungslosen Ablauf von Einsendeschuss bis Druck verantwortlich – und für diesen Blog. Bei &Radieschen hat sie ihre Leidenschaft fürs Zeitschriftenmachen entdeckt, weswegen sie seit 2021 auch die Dialektzeitschrift “Morgenschtean” gestaltet. Wenn sie nicht gerade vor dem Bildschirm sitzt, dann liest sie meist. Oder sie schreibt (> margaritakinstner.at).