[REZENSION:] “handverlesen” von Franziska Winkler (Hg*in)

Fran­zis­ka Wink­ler (Hg*in)
hand­ver­le­sen – Gebär­den­sprach­poe­sie in Laut­spra­che
hoch­roth Mün­chen, 2023
ISBN 978–3‑949850–11‑0
56 S. | 10.00€

Wenn jemand »Poe­sie« sagt, wor­an den­ken Sie? An Hän­de, die durch die Luft fah­ren, zu Per­so­nen, Din­gen, Gefüh­len wer­den, an For­men des Mun­des, die die­se Erzäh­lun­gen ver­än­dern, an Mimik, die plötz­lich meh­re­re Per­spek­ti­ven auf­fä­chert? Oder nur an einen linea­ren Text, Schrift auf Papier, vor­ge­le­sen viel­leicht, gedruckt und gespro­chen?

»hand­ver­le­sen« ist das bis­her stärks­te Plä­doy­er in der deutsch­spra­chi­gen Lite­ra­tur­welt, Ers­te­res mit­zu­den­ken, Gebär­den­sprach­poe­sie als eigen­stän­di­ge Gat­tung anzu­er­ken­nen und wert­zu­schät­zen. Denn Gebär­den­sprach­poe­sie trägt alle Ele­men­te von Epik, Lyrik und Dra­ma­tik in sich und »bie­tet uns die sel­te­ne Gele­gen­heit, noch ein­mal völ­lig neu dar­über nach­zu­den­ken, was Lite­ra­tur ist und wel­che For­men Lite­ra­tur fin­den kann«, so die Her­aus­ge­be­rin Fran­zis­ka Wink­ler im Vor­wort (über­setzt von Eyk Kau­ly). Denn es ist ein lite­ra­risch-poe­ti­scher Aus­druck »jen­seits von Schrift und lautsprachliche[m] Wort«.

Gesell­schafts­po­li­tisch aus vie­len Grün­den span­nend, bringt Gebär­den­sprach­poe­sie zudem mit sich, dass die (lei­di­ge) Dis­kus­si­on der Tren­nung von Autor*innenschaft und Werk gar nicht ein­tre­ten kann, da der eige­ne Kör­per beim Gebär­den ganz direkt als Medi­um dient, der den Text und sei­ne Bedeu­tungs­ebe­nen erst her­vor­bringt.

Wink­ler hat für das Pro­jekt fünf Gehör­lo­se Künstler*innen, Rafa­el-Evi­tan Grom­bel­ka, Dawei Ni, Lau­ra-Levi­ta Valy­te, Julia Kul­da-Hroch und Kas­san­dra Wedel, und sechs hören­de Lyriker*innen, Anna Het­zer, Tim Hol­land, Lea Schnei­der, Danie­la Seel, Ulf Stol­ter­foht und Kinga Tóth, zusam­men­ge­bracht. Zwei­te­re haben die Gebär­den­sprach­poe­si­en in deut­sche Schrift­spra­che über­setzt. Damit es aber nicht bei einer blo­ßen Über­set­zung bleibt, son­dern die Ori­gi­nal­tex­te ange­mes­sen Ein­gang in den Band fin­den, sind Vide­os der Künstler*innen, die ihre Poe­si­en gebär­den, per Aug­men­ted Rea­li­ty »im Buch« ver­füg­bar. So wer­den nicht nur die Tex­te inhalt­lich, son­dern auch Gebär­den­sprach­poe­sie an sich einem nicht-gebär­den­sprach­kom­pe­ten­ten Publi­kum näher­ge­bracht.

Ein enorm wich­ti­ger Band, der völ­lig zu Unrecht bis­lang wenig Auf­merk­sam­keit erhal­ten hat. Ein längst über­fäl­li­ger Bei­trag zur deutsch­spra­chi­gen Lite­ra­tur. Der Auf­ruf der Her­aus­ge­be­rin, sich auf den neu eröff­ne­ten Raum ein­zu­las­sen und die bis­he­ri­gen Ideen von Lyrik auf den Kopf zu stel­len, kann nur dicks­tens unter­stri­chen wer­den – lesen und schau­en Sie die­ses Buch!

Kathe­ri­na Bra­schel ist seit 2015 bei &Radieschen. Sie ist für die Text­aus­wahl zustän­dig und organ­si­liert und mode­riert die Lesun­gen beim Anno Lite­ra­tur Sonn­tag. Auf­ge­wach­sen in Salz­burg, lebt und arbei­tet seit 2011 in Wien, wo sie Theater‑, Film- und Medi­en­wis­sen­schaft stu­dier­te. 2019 wur­de sie mit dem Rau­ri­ser För­de­rungs­preis, dem exil-lite­ra­tur­preis und dem Wort­mel­dun­gen För­der­preis aus­ge­zeich­net. 2020 erschien ihr Buch­de­büt es fehlt viel (edi­ti­on mosa­ik).

Foto: © Leon­hard Pill

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