Raoul Eisele:
Als Versprechen dieser Zeit
Haymon, 2024 | 144 S. | € 22,90
ISBN: 978–3‑7099–8225‑9
Rezension: Eveyln Bubich / @lyristix
»Wenn Du vor mir stehst und mich ansiehst,
was weißt Du von den Schmerzen, die in mir sind,
was weiß ich von den Deinen«,
schreibt Franz Kafka im November 1903 in einem Brief an seinen Schulkollegen Oskar Pollak. In diesem privaten und viele Jahrzehnte später der Öffentlichkeit zugänglich gemachten Schriftstück heißt es dann weiter: »Du warst, neben vielem andern, auch etwas wie ein Fenster für mich, durch das ich durch die Gassen sehen konnte.« (Briefband, Briefe 1902–1924. Frankfurt am Main, Mai 1983)
Obgleich der Seelenschmerz des einen für den andern in seinem individuellen Zutage- und Zunachtetreten nicht erfahrbar ist, können sie sich trotzdem gegenseitig ein Fenster sein zu einer anderen Welt. In ihr ist die Einsamkeit kein leerer Raum, sondern eine Verdichtung von schwer Fasslichem. Wie sehr unsere eigene Wirklichkeit von der der anderen getrennt ist, wird uns erst hier so recht spürbar.
»doch was gehört zu deiner und
was gehört zu meiner Lebensrealität?« (8),
schreibt Raoul Eisele in der Einführung seiner kunstvoll in lyrische Prosa gegossenen Schrift Als Versprechen dieser Zeit, der die ersten drei Zeilen des oben erwähnten Kafkazitats voranstehen. Eisele sucht in diesem Text eine Sprache für die Zweisamkeit der Einsamkeit – sowie im umgekehrten Verhältnis; eine Spiegel-Schrift, die der Frage aufs Fundament geht – »hier entsteht ein erstes Fundament, ein Wesen, das versucht in aufrechtem Stand, seinen Blick auf sein Gegenüber zu richten […]« (7) –, wo denn »mein Körper« überhaupt anfange und wem er denn gehöre, wo er doch immer nur seine eigene Lebensrealität erfährt. Und da fängt sie an, diese Crux mit der subjektiven Realität, deren Grenzen uns trennen voneinander – stets sind wir auf der Suche nach einem Durchlass, einer Öffnung, einem Fenster, durch d. wir uns die Arme reichen und erkennen können (im andern), damit sich die Crux auch in ihr Gegenteil verkehren kann. Vielleicht ein Paradox, eine Unmöglichkeit.
Eine Schrift im Spiegel, die der Frage nachgeht, wie wir mit Erinnerung umgehen, zum Beispiel an einen Körper – physisch und mental –, und es kann sich nur um den eigenen handeln, der zu einem fremden wird, fremdbestimmt; wie wir mit dem »Zustand [umgehen,] in dem sich mein Körper befand mit all seinen Erinnerungen, diesen möglichen Unwahrheiten oder Erzählungen, die man in sich trägt« (19); mit der Erinnerung »als Überschreibung« (31), die einen ausliefert an die Erwartungen der anderen, die einen sagen, wie man »zu sein habe« (37); und auch mit dem Akt des Schreibens an sich, »heißt Schreiben, sich selbst auszuliefern« (23, Tove Ditlevsen), und sucht das literarische Subjekt doch nach einer »Sprache, in der wir uns begegnen« (54) können.
Es ist ein Buch, das die Frage nach den Erwartungen stellt, den eigenen und eben auch den auferlegten, den »aufgebürdeten« (22), sowie nach den Verwundungen, die sich aus ihnen herauswühlen und die gleichzeitig mit Bitterkeit und Verzagen in die Erinnerungsspur einwachsen, sowie nach der gelegentlichen »VERWUNDERUNG« (19) darüber, dass »I don’t believe in myself […] but I hope« (12). Ist diese Hoffnung allenfalls ein zu großes Versprechen an sich selbst wie an andere?
Da erinnert sich jemand – doch wer spricht? –, vielleicht ein lyrisches Ich oder ein literarisches Subjekt, das stets um sich, doch auch um ein lyrisches Du kreist.
Da ist eine Tochter, ein Sohn (?), eine Mutter, Großmutter und Großvater, der »mir bloß Silhouette blieb […] ein unsichtbares Wesen / im später aufgebahrten Sarg, / in dem sich sein Gesicht unter den vielen / Kränzen und Sträußen verbarg / meiner Emotionslosigkeit ausgesetzt« (20).
Und auch das Wesen, das spricht in Als Versprechen dieser Zeit, bleibt in seiner Beschaffenheit, seinem Erscheinen oft bloß Silhouette, und je weiter die Erinnerungen – oder Erzählungen – zurückreichen, desto unschärfer schweben seine Konturen in diesem Raum des (Nach-)Erzählens, (Nach-)Empfindens, Reflektierens, in dem aber doch niemandem zu trauen ist. Der Unzuverlässigkeit des Daseins liegen falsche Versprechungen tief zugrunde.
Alles beginnt mit »haltende[n] Hände[n]« (11), vielleicht, denn da ist auch »die Mutter, die ihr Kind nicht hält« (59), die Nähe wird alsbald zur Utopie und die Einsamkeit zum »Grundproblem der menschlichen Existenz« (7). Nur in der Utopie lässt sich die (bedingungslose) Nähe verorten, dort ist sie – [a]ls Versprechen dieser Zeit – beheimatet. Doch »Zuhause, habe ich gelernt, darf nie für Verrat stehen« (40) – immerzu wird das Erleben hier als Ambivalenz erfahren.
Bruchstückhaft wird eine Kindheit beschrieben: ein Haus »bewohnt von Frauen« (11), ein Grinsen unter Sonnenhüten, die Autofahrt, auf der der Großvater ins Altenheim gebracht wird, kühlende Bäche, ein Hausmittel der Großeltern gegen Brennnessel, »Vaters Leben […] bestimmt von seiner Arbeit« (67), »Ausbrüche in meiner Kindheit […] immer als weibisch abgetan« (20). Soziale Prägungen durch Herkunft, Rollenbilder werden aufgearbeitet; wie man zu sein hat, hängt als Damoklesschwert über dem Kopf des literarischen Subjekts, das älter geworden ist – »so viel Stadt, so viel Einsamkeit / um uns herum die Wohnung, die sich weitet« (54) – und »Punkt für Punkt in der Geschichte« vorangeht (54). Und wird es auch der Halt bleiben, der fehlt: »ich bin / dir /etwas schuldig« (128).
Über sechs Teile – »EINFÜHRUNG«, »PROLOG«, »PRÄGUNGEN«, »PERSPEKTIVEN«, »PERMANENTES (VER)BLÜHEN«, »PORÖSES« – vollzieht sich dieses Vorangehen, das gleichzeitig auch immer ein Zurückschauen bleibt. Parenthesen schaffen immer neue Räume und Bezüge, um sie sogleich wieder zu dekonstruieren. In den Marginalen werden explizite intertextuelle Verweise hergestellt, zu Derrida, Barthes, Illouz, Bachmann oder Žižek (u. a.). Und so wie Barthes – auf den sich Eisele in den Randnotizen gleich mehrmals bezieht – mit seinen Fragmenten einer Sprache der Liebe ein literarisches Glossar erstellt hat, in dem er einschlägige Begriffe aus der Sprache eines liebenden Subjekts destilliert, macht sich Eisele auf die Suche nach einer Sprache der Annäherung.
Und auch Als Versprechen dieser Zeit wohnt das Fragmentarisches inne, ein philosophisch-literarisches Inventar an (Zugangs)möglichkeiten, das eingangs erwähnte Fenster zu finden – oder auch nicht –, welche da sein können: dein Bauchgefühl »[…] und nur noch das Herz spricht«; ein Eingestehen, wenn »we can’t control time«; »deine Hand / wenn wir das Zittern des andern voraussehen«; die »ENTWURZELUNG«, die mit der Geburt unweigerlich einsetzt; ein »kreuze: Ja, Nein oder Vielleicht an« (56); ein Konflikt, der unausweichlich bleibt; die Leere, die man vorfindet, wenn sich die Einsamkeit breitmacht; Mutterworte, die sich in den Leib des Kindes schreiben; eine »Offenheit, die sich im Darunter verbirgt« (47); Risse und poröse Stellen in der Fassade; Träumer*innen; der Versuch einer Uebersetzung zwischen dir und mir; »dein Gedanke: sie hatte dich verlassen« (59); eine literarische Reminiszenz an ein immerwährendes Yesterday; die »Einsamkeit als Grundproblem der menschlichen Existenz« (7); »der Widerspruch von idealer und wirklicher Welt« (30, Derrida); ein lyrisch-prosabeschlagenes Fenster, und dahinter etwas Helles.
Liebe (und Nähe) ist unsere Hoffnung (bell hooks, selbst liebe. Über Herkunft und Gerechtigkeit, HarperCollins 2023), und diese wiederum ein Versprechen jeder Zeit; wir versprechen uns etwas – und versprechen uns dabei, weil wir nicht dieselbe Sprache sprechen.
(Eveyln Bubich / Lyristix)
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