Kaśka Bryla: Die Eistaucher
Residenz Verlag, 2022
ISBN: 978–3‑7017–1751‑4
315 S., € 24,00
Rezension: Margarita Puntigam-Kinstner
.. beginnt wie ein vorsichtiger Spaziergang über dünnes Eis, in das man jäh einbricht.
So der Klappentext hinten am Buch. Versprechungen wie diese sind immer ein wenig gefährlich, denn sehr oft bleibt der Text hinter der Ankündigung zurück. Nicht so Kaśka Brylas neuer Roman.
“Die Eistaucher” ist eine vielschichtige, spannende, ungewöhnliche und zugleich unheimlich zarte Erzählung, die uns Lesende tief in die Gefühle der Handelnden eintauchen lässt.
Am Beginn lernen wir Saša kennen. Er betreibt einen Campingplatz am Rande eines Naturschutzgebietes. Und wir erfahren: Auch Iga und Jess sowie der gemeinsame Sohn Jakob sind nicht weit.
Und dann sind da noch die blutleeren, toten Tiere, die seit der Ankunft des Fremden auftauchen. Jenes Fremden, von dem Saša sofort ahnt, dass er Bescheid weiß. Von dem, was geschehen ist. Von dem, an das Saša nicht mehr denken will.
“Manchmal denke ich dann, dass ich mir das alles nur einbilde. Dass nichts davon wirklich geschehen ist und Franziska Fellbaum irgendwo glücklich mit dem Peter lebt. Und der Jakob schon groß ist. Nicht wie unser Jakob, der noch ein Kind ist.“
Noch wissen wir nichts von der Fellbaum. Oder vom Peter. Oder auch von Jakob, dem Sohn der beiden, Und schon gar nichts wissen wir von Iga und Jess. Oder auch von Ras, der nur einmal im Jahr kommt.
Bryla hebt einzelne, hauchdünne Fäden hoch und lässt sie vor unserem inneren Auge schweben. Fäden, die sie erst nach und nach zu einem dichten Stoff verwebt. Dann nämlich, wenn wir – aus wechselnden Perspektiven – die Eistaucher kennenlernen, in einer Zeit zwanzig Jahre zuvor, in der sie zusammenfinden.
Da ist Iga. Die Neue an der katholischen Privatschule, mathematisch hochbegabt jedoch eine heillose Schulschwänzerin; Iga, deren Vater androht, sie (und die Mutter, die kaum zu Hause ist, weswegen Iga oft lügen muss) nach Polen zu holen.
Und da ist Jess, die Hübsche, die so sehr auf ihren Stil achtet und sich im Sommer unsterblich in die in Frankreich lebende Tifenn verliebt hat, von der sie schließlich verlassen wird.
Und Ras, der eigentlich Rasputin heißt. Ras, der dicke Rothaarige, der sich wie Ikarus fühlt, Schokoriegel isst und gefundene Dinge sammelt, bis er Gedichte zu schreiben beginnt. Ras, der von einem Müllberg begleitet wird – egal, wohin er geht.
Und dann sind da noch Rilke-Rainer und der schöne Sebastian, die gemeinsam mit Jess “Die Avantgarde” bilden – eine Clique, der auch Ras und Iga beitreten und die nach dem Motto „Ohne Poesie keine Welt“ lebt.
Und natürlich Franziska Fellbaum. In die alle ein bisschen verknallt sind. Allen voran Iga, die ihre Französischlehrerin an den Mittwochnachmittagen im Parkcafé trifft und sie sogar auf ihr Longboard steigen lässt.
Kaśka Bryla verwebt ihre Handlungsstränge so geschickt, dass die über lange Strecken sehr zarte, behutsame Erzählung gleichzeitig ungemein spannend ist. Man will wissen, wie es mit den Jugendlichen weitergeht. Man will wissen, was aus Iga und der Fellbaum wird. Und was dieser Fremde weiß. Und ob Ras seinen Müllhaufen jemals wieder los wird … Und was es mit den Tieren auf sich hat.
Ein bisschen schade fand ich , dass bereits im Umschlagtext verraten wurde, dass die Teenager Gewalt durch Polizeibeamte beobachten. Mit diesem Vorab-Wissen ging es mir dann ein bisschen wie mit dem rosa Elefanten, den ich viel zu früh an jeder Ecke erwartet habe.
Die Eistaucher” ist die Geschichte einer Radikalisierung , aber nicht nur. Allem voran geht es um die Liebe. Nicht nur die erotische zwischen zwei Menschen, sondern auch (und vor allem) um die Nächstenliebe. Die etwa darin besteht, ein fremdes Mädchen, dem Unrecht getan wurde, nicht im Schnee liegen zu lassen.
“Seit jener Nacht war Iga Teil eines Wolfsrudels. Wölfe ließen die Schwächsten vorauslaufen. Wölfe mochte sie. Irgendwann würde sie dort leben, wo es Wölfe gab.”
Kaśka Bryla erzählt in einer schnörkellosen, präzisen Sprache und lässt uns während des Lesens mitleben, mitleiden und mitlieben – und ja, auch mitspüren, denn die Beschreibungen sind stellenweise hocherotisch.
Besonders schön: Die gendergerechte Sprache – und das ohne auch nur an einer einzigen Stelle sperrig zu wirken.
Auch inhaltlich setzt die Autorin ein schönes Zeichen. Als wäre es längst alltäglich (und selbst 1996 schon Usus gewesen), dass sich zwei Mädchen oder auch zwei Jungen vor den Augen aller einfach so küssen – Kaśka Bryla schreibt es einfach. Auch das macht dieses Buch so schön!
Margarita ist seit 2009 bei &Radieschen. Sie ist für den Satz der Zeitschrift sowie den reibungslosen Ablauf von Einsendeschuss bis Druck verantwortlich – und für diesen Blog. Bei &Radieschen hat sie ihre Leidenschaft fürs Zeitschriftenmachen entdeckt, weswegen sie seit 2021 auch die Dialektzeitschrift “Morgenschtean” gestaltet. Wenn sie nicht gerade vor dem Bildschirm sitzt, dann liest sie meist. Oder sie schreibt (> margaritakinstner.at).