[REZENSION:] “Kilometer Null” von Stefan Kutzenberger

Ste­fan Kut­zen­ber­ger: Kilo­me­ter Null
Ber­lin Ver­lag, 2022
ISBN: 978–3‑8270–1441‑2
400 S., € 24,95.-

Rezen­si­on: Mar­ga­ri­ta Pun­ti­gam-Kinst­ner

Lite­ra­tur darf alles, und Lite­ra­tur kann alles. Es gibt nichts, das in der Lite­ra­tur nicht mög­lich ist!

Kut­zen­ber­ger ist tot. Er wur­de erschos­sen, Kugel durchs Hirn und aus die Maus. Ort des Gesche­hens: San­ta Maria, jene Klein­stadt in Uru­gu­ay, in der Kut­zen­ber­ger nie begra­ben sein woll­te. Kut­zen­ber­ger ist also am Ziel ange­kom­men, an sei­nem per­sön­li­chen Kilo­me­ter Null, darf end­lich zu Gott hoch­fah­ren. (Obwohl so eine Wie­der­ge­burt als Schwein durch­aus eine schö­ne Erfah­rung zu sein scheint …)
Aber halt. So weit sind wir  ja noch nicht. Also noch­mals zurück­spu­len, zu Kilo­me­ter 11.316, in den Fest­saal der Uni Wien, wo Kut­zen­ber­ger als Aus­er­wähl­ter eines UNESCO-Aus­tausch­pro­gramms sitzt und Mar­ta zuge­wie­sen bekommt, die Schrift­stel­le­rin aus Uru­gu­ay, mit der er gleich anschlie­ßend in sei­ne Geburts­stadt Wels rei­sen soll. 

Erzäh­len kann uns Kut­zen­ber­ger das alles frei­lich nicht mehr, denn er ist ja tot. Wes­we­gen wir mit dem kor­rup­ten Ex-Beam­ten vor­lieb­neh­men müs­sen, der die­sen Bericht nie­der­schreibt, jenem Mann, der – dank Kut­zen­be­gers Debüt­ro­man –  alles, was ihm einst lieb war, zurück­las­sen und nach Süd­ame­ri­ka flie­hen muss­te. Aber kann man so einem von Rache­ge­lüs­ten getrie­be­nen Erzäh­ler, der das lite­ra­ri­sche Schrei­ben erst erler­nen muss, sich dafür tau­send­fach ent­schul­digt und dar­über hin­aus frei­mü­tig zugibt, der Haupt­per­son (also Kut­zen­ber­ger) immer wie­der die eige­nen Gedan­ken als Erleb­nis anzu­dich­ten, über­haupt ver­trau­en?

Aber zurück nach Wels.
Wäh­rend Kut­zen­ber­ger sich in sei­nem Zim­mer ver­kriecht, erobert die lebens­lus­ti­ge Mar­ta die ober­ös­ter­rei­chi­sche Stadt. Die Nazis, vor denen Kut­zen­ber­ger sie warnt, sieht sie nicht, Mar­ta sieht nur Men­schen, und die schei­nen doch alle ganz nett.  Selbst als Kut­zen­ber­ger sich über die geschön­te Fami­li­en­le­gen­de des frei­heit­li­chen Bür­ger­meis­ters empört, lacht Mar­ta nur, gibt sich gar begeis­tert, denn wer immer so etwas behaup­te, sei doch geni­al, „einer von uns, sagt sie, er macht sich die Welt, wie sie ihm gefällt, wie Pip­pi Calz­as­lar­g­has!* (=Pipi Lang­strumpf).
Und schon folgt man die­ser Mar­ta bzw. Kut­zen­ber­ger fas­zi­niert auf den höchs­ten Punkt, schaut über die Stadt und weit übers eige­ne Den­ken hin­aus … bis hin­ein in die latein­ame­ri­ka­ni­sche Lite­ra­tur des magi­schen Rea­lis­mus.
Denn ein paar Mona­te nach dem Auf­ent­halt in Wels tritt Kut­zen­ber­ger die Gegen­rei­se an. Noch wäh­rend er sich an Bord des Kreuz­fahrt­schiffs befin­det (jenes legen­dä­ren, mit dem auch Tho­mas Mann einst reis­te!), bricht in Euro­pa Krieg aus. Kut­zen­ber­ger, der gela­de­ne UNESCO-Sti­pen­di­at, wird zum Flücht­ling, bekommt einen fet­ten R‑Stempel ver­passt (was das ist, musst du selbst her­aus­fin­den), ist plötz­lich nicht mehr Ste­fan Kut­zen­ber­ger, son­dern Mago Dro (ach, wären sie doch nicht so titel­süch­tig, die­se Men­schen in Öster­reich!)

Es ist eine aber­wit­zi­ge Rei­se, die wir Leser*innen erle­ben dür­fen. Eine Rei­se durch frem­de Woh­nun­gen und Flücht­lings­un­ter­künf­te, eine Rei­se, die uns unter ande­rem auch nach Macon­do führt, bzw. ins ech­te Cié­na­ga, wo Kut­zen­ber­ger als Ein­zi­ger das Mas­sa­ker über­lebt.
Als Leser*in folgt man dem Erzäh­ler wie ein aus­ge­las­se­ner Wel­pe, jagt schwanz­we­delnd durch Orte, Neben­strän­ge und Gedan­ken, schnappt nach losen Faden­en­den, hechelt bun­ten Bäl­len hin­ter­drein (goo­gelt viel­leicht ein biss­chen, wenn man das möch­te), und wenn man dann am Ende der Rei­se ange­langt ist, stellt man erstaunt fest, dass da kei­ne losen Enden mehr blei­ben, dass kein Ball ohne Grund gerollt wur­de, dass sich alles viel­mehr zu einem himm­li­schen Gespinst zusam­men­fügt. Das ist eine dra­ma­tur­gi­sche Meis­ter­leis­tung, vor der man sich, wenn man selbst Ahnung vom Schrei­ben hat, nur tief ver­nei­gen kann.
Ich jeden­falls kann ohne mit der Wim­per zu zucken behaup­ten, dass es das bes­te Buch war, das ich die­ses Jahr gele­sen habe!
Und: Mei­ne Lese­lis­te ist auch schon wie­der gewach­sen. 2023 geht es wohl auf nach Süd­ame­ri­ka!

Mar­ga­ri­ta ist seit 2009 bei &Radieschen. Sie ist für den Satz der Zeit­schrift sowie den rei­bungs­lo­sen Ablauf von Ein­sen­de­schuss bis Druck ver­ant­wort­lich – und für die­sen Blog. Bei &Radieschen hat sie ihre Lei­den­schaft fürs Zeit­schrif­ten­ma­chen ent­deckt, wes­we­gen sie seit 2021 auch die Dia­lekt­zeit­schrift “Mor­gen­schte­an” gestal­tet. Wenn sie nicht gera­de vor dem Bild­schirm sitzt, dann liest sie meist. Oder sie schreibt (> margaritakinstner.at). Oder sie bloggt auf literaturgalaxien.at.

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