[REZENSION:] “Das glückliche Geheimnis” von Arno Geiger

Arno Gei­ger:
Das glück­li­che Geheim­nis
auto­bio­graf. Roman, Han­ser, 2023
240 S. | € 26,50
ISBN: 978–3‑446–27617‑8
Rezen­si­on: Mar­ga­ri­ta Pun­ti­gam-Kinst­ner

Es ist näm­lich so: Arno Gei­ger hat 25 Jah­re lang ein Dop­pel­le­ben geführt. Eine Bücher­kis­te war es, die in den 90ern sei­ne Auf­merk­sam­keit erreg­te – eine Bücher­kis­te, die ent­sorgt wor­den war. Also nahm der damals noch blut­jun­ge ange­hen­de Schrift­stel­ler – oder sagen wir: Stu­dent, aus dem Länd­le, wohn­haft in Wien, denn ab wann darf mensch sich eigent­lich Schriftsteller*in nen­nen? – ein Taxi.
Fort­an kram­te Gei­ger oft in den Alt­pa­pier­con­tai­nern. Bis er es dann sogar wöchent­lich tat. Sei­ne Run­den, wie er sie nann­te, waren das. Kam vor, dass er sich beim Tau­chen die Rip­pen anknacks­te. Das mag heu­te cool klin­gen, wegen Dumps­ter Diving und so, damals war es das nicht. Damals haben die Leu­te weg­ge­schaut. Oder empört die Köp­fe geschüt­telt. War dem Arno aber egal. Er hat im Alt­pa­pier näm­lich nicht nur Bücher für sich gefun­den, son­dern auch Wert­vol­les, das ihm die Mie­te ein­brach­te. Litho­gra­fien zum Bei­spiel. Alte Post­kar­ten. Und Brie­fe. Vie­le Brie­fe. Gan­ze Brief­kon­vo­lu­te und manch­mal auch Tage­bü­cher. Die authen­tischs­te Form der Lite­ra­tur über­haupt – und sie hat Gei­ger die Men­schen näher gebracht als jeder Roman. Denn die Men­schen reagie­ren nicht so, wie wir uns das in unse­rer Logik vor­stel­len. Die Men­schen reagie­ren viel­mehr aus dem Bauch her­aus. Und wie schön, wenn ein Schrift­stel­ler das Glück hat, auf Tage­bü­cher zu sto­ßen und zu sehen, dass die Men­schen ganz anders den­ken und han­deln, als zuvor im eige­nen Kopf zusam­men­ge­reimt.
Schön vor allem, dass es Autor*innen gibt, die so offen aus der eige­nen Erfah­rungs­welt berich­ten. Die offen­le­gen, wie sie zu ihren Ideen kom­men und wie sich das Schrei­ben so anfühlt(e) für sie, damals und auch heu­te. 
Gei­ger schreibt näm­lich nicht nur vom Wüh­len im Alt­pa­pier, son­dern vom Suchen und Fin­den ganz all­ge­mein. Auch eine lite­ra­ri­sche Spra­che ist ja nichts, was ein­fach so da ist. Gera­de, wenn sie so schnör­kel­los daher­kommt. Gera­de so eine Spra­che ist das Schwie­rigs­te über­haupt. Das wis­sen alle, die selbst schrei­ben. Dass das offen­sicht­lich Ein­fa­che, aus dem Leben Gegrif­fe­ne erst ein­mal genau­so ein­fach und kris­tall­klar zu Papier gebracht wer­den will. Nicht um den Inhalt selbst geht es, son­dern dar­um, die rich­ti­ge Spra­che zu fin­den. Weil Leben ist das eine, Lite­ra­tur das ande­re. 
“Das Brü­ten über Form und Spra­che, das stun­den­lan­ge Sit­zen über ein­zel­nen Sät­zen – ich pro­bier­te es, bis ich blu­tig war. Dabei beschäf­tig­te mich der Inhalt der Roma­ne nur am Rand, was ein­fäl­tig klin­gen mag”, heißt es auf Sei­te 18. 
Gera­de in Zei­ten, in denen sich Autor*innen in Foren und Schreib­grup­pen dar­über aus­tau­schen, wie vie­le Sei­ten sie pro Tag schaf­fen, ob “nur” 2 oder doch 5 oder sogar 10 (o, wie stolz da man­che sind!), ist es wich­tig zu zei­gen, dass Lite­ra­tur eben nicht nur ein Befül­len von lee­ren Sei­ten ist. Dass es auch nicht dar­um geht, dass bald das nächs­te Buch erscheint. Dass es manch­mal bes­ser ist, ein Manu­skript nicht zu früh auf den Markt zu wer­fen. (Aus eige­ner Erfah­rung kann ich sagen: Das soll­ten auch man­che Ver­la­ge ler­nen. Dass sie da auf ihre Autor*innen hören und nicht auf Erschei­nungs­ter­mi­ne drän­gen. Und auf der ande­ren Sei­te: dass sie sich die­se Hin­hal­te­tak­tik, die­ses Warm­hal­ten end­lich abge­wöh­nen, die­ses ewi­ge Ver­schie­ben in den Pro­gramm­plät­zen und Um-den-hei­ßen-Brei-her­um­re­den.)

Arno Gei­ger ließ sich Zeit. Er feil­te an sei­nem ers­ten Manu­skript, am Papier, im Kopf, immer wie­der. Kann­te es schon aus­wen­dig. Und dann kam die Teil­nah­me am Bach­mann-Wett­be­werb, dann der Ver­trag mit Han­ser. Was nicht hieß, dass der gro­ße Ver­lag den klei­nen Autor hofier­te. Gei­ger erzählt mit einer gro­ßen Por­ti­on Ehr­lich­keit von mäßi­gen Ver­kaufs­zah­len und der Zusam­men­ar­beit mit dem Ver­lag, die sich lan­ge Zeit so anfühl­te, als ob man ihn lie­ber los­wer­den wol­le. 
Was dann folg­te, wis­sen wir alle. Arno Gei­ger bekam den ers­ten Deut­schen Buch­preis. Dass sein Manu­skript ein­ge­reicht wur­de, hat er sei­nem Lek­tor zu ver­dan­ken – der tat das hin­ter dem Rücken des Ver­lags. Heu­te zählt Gei­ger zu den Gro­ßen in der deutsch­spra­chi­gen Lite­ra­tur­sze­ne – wie ich mei­ne, zu Recht. Denn was den Autor dort­hin brach­te, das war nicht nur sein Talent und schon gar nicht ein­fach nur Glück, son­dern vor allem har­te Arbeit. Auch davon berich­tet Gei­ger in sei­nem neu­en Werk. Von der Arbeit an “Es geht uns gut”, die kaum Raum für Ande­res ließ. Über­haupt. Wie geht es einem Schrift­stel­ler, wenn er schreibt? Wie geht es ihm neben dem Schrei­ben mit dem Lie­ben? Bleibt da noch Platz für einen ande­ren Men­schen, der plötz­lich Ansprü­che stellt? Und wie ging es Gei­ger, als er plötz­lich im Ram­pen­licht stand? Als selt­sa­me Tele­fon­an­ru­fe kamen und das Leben sich nur noch in Hotel­zim­mern abspiel­te?
Wie geht es einem Schrift­stel­ler, wenn der eige­ne Vater plötz­lich Hil­fe benö­tigt?

Ich selbst jeden­falls habe mich in vie­len Punk­ten wie­der­erkannt. Zum Bei­spiel in der Stur­heit. Denn je stei­ni­ger der Weg, des­to ver­bis­se­ner der Kampf. Und um nach den ers­ten Erfol­gen para­no­id zu wer­den, muss man bei wei­tem kei­ne hal­be Mil­li­on ver­kau­fen. Da reicht schon das ers­te Inter­view, das plötz­lich in der Zei­tung erscheint und vom Typen in der U‑Bahn gegen­über auf­ge­klappt wird.
Ganz klar ist: Nicht alle, die stur an einer Sache dran­blie­ben, brin­gen es zu etwas. Aber wer es zu etwas brin­gen will, muss sich schon hin­set­zen und arbei­ten. Nicht nur ein­mal, son­dern für jedes Buch, denn Erfolg ist flüch­tig. 
Gei­ger schreibt vom Kampf ums per­fek­te Manu­skript. Aber auch davon, wie ent­spannt er heu­te damit umgeht, wenn sich sei­ne Frau im sel­ben Raum auf­hält. Das ist das eigent­lich Schö­ne in “Das glück­li­che Geheim­nis”. Dass Arno Gei­ger eben nicht nur vom Schrift­stel­ler berich­tet. Auch nicht aus­schließ­lich vom Kra­men im Alt­pa­pier. Son­dern davon, was es heißt, Sohn zu sein. Ehe­mann, Freund. Und nein, mensch ist nicht immer per­fekt. Alles ande­re als per­fekt. Per­fek­ti­on gebiert Mons­ter, Aus­schließ­lich­keit auch.

Um zurück zum Abfall zu kom­men: Heu­te taucht der Gei­ger nicht mehr in Alt­pa­pier-Con­tai­nern. Viel­leicht hat es damit zu tun, dass es dort heu­te ganz anders aus­sieht. Statt Lie­bes­ro­ma­nen fin­den sich jetzt angeb­lich mehr Kri­mis in den Ton­nen. Und Wein­kar­tons. Und Kar­tons von Flach­bild­schir­men. Die Fern­se­her haben das Kar­ten­spiel abge­löst. Das Buch­re­gal zum Her­zei­gen hat aus­ge­dient. Der moder­ne Mensch, dem man heu­te im Müll begeg­net, wirkt irgend­wie trost­los. Aber viel­leicht liegt es ja auch bloß dar­an, dass die guten Bücher heu­te in den Bücher­zel­len lan­den und die Litho­gra­fien und Brie­fe in Kurr­ent­schrift gleich übers Inter­net ver­tickt wer­den. Schön wär’s – aber wir wis­sen, das ist nur die hal­be Wahr­heit.
Gei­ger selbst ist jemand, der das Weg­wer­fen gut beherrscht. Die Kor­re­spon­den­zen, die er einst im Alt­pa­pier fand und die ihn unter ande­rem zu sei­nem Roman “Unter der Dra­chen­wand” inspi­rier­ten, hat er selbst ent­sorgt. Dies­mal aller­dings wur­den die Brie­fe zuerst durch den Reiß­wolf gescho­ben.

Fazit: Für alle, die selbst lite­ra­risch tätig sind, ist die­ses Buch ein Geschenk. Denn es ist so unglaub­lich sym­pa­thisch geschrie­ben. Und es ist ehr­lich. Und macht Mut. Letzt­end­lich geht es beim Schrei­ben nicht dar­um, wie oft sich ein Buch ver­kauft – auch wenn das natür­lich schön ist, wenn es pas­siert. Nein, es geht dar­um, was man die­ser Welt mit­zu­tei­len hat. Ja, ich möch­te sogar sagen: Was man ihr zu schen­ken hat.
Arno Gei­gers Bücher gehö­ren ein­deu­tig zu den schö­nen Über­ra­schun­gen unterm Christ­baum. Oder auch im Geburts­tags­sa­ckerl. Oder ein­fach nur im Korb mit den Neu­erschei­nun­gen.

Leseprobe/ Ver­lag

Mar­ga­ri­ta ist seit 2009 bei &Radieschen. Sie ist für den Satz der Zeit­schrift sowie den rei­bungs­lo­sen Ablauf von Ein­sen­de­schuss bis Druck ver­ant­wort­lich – und für die­sen Blog. Bei &Radieschen hat sie ihre Lei­den­schaft fürs Zeit­schrif­ten­ma­chen ent­deckt, wes­we­gen sie seit 2021 auch die Dia­lekt­zeit­schrift “Mor­gen­schte­an” gestal­tet. Wenn sie nicht gera­de vor dem Bild­schirm sitzt, dann liest sie meist. Oder sie schreibt (> margaritakinstner.at).

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